12:44, Claremont Zelt, Henley Island, St. Catharine’s, Kanadische Rudermeisterschaften
Mittagspause. Noch exakt 90 Minuten bis zum Rennen. Das ganze Team saß im Mannschaftszelt und schwitzte bei 37 Grad. Alle waren gerade von den 4 Begleit-Moms und unseren 3 Trainern mit Unmengen an Essen und Getränken versorgt worden.
Ich checkte noch einmal mein Handy, und tatsächlich jeweils eine Nachricht von Katie und Teri. Endlich. Sie wünschten mir Glück und versuchten beide, mich zu beruhigen, da sie genau wussten, wie nervös ich jetzt war. Ich musste unwillkürlich lächeln und an meinen ersten Abend in Kanada denken, und wie meine 3 Gastschwestern Ella (7), Sophie (9) und Katelyn (19) sofort begannen, auf mich einzureden und mich in Sachen Restaurantwahl fürs Abendessen auf ihre Seite zu ziehen. Mir kamen all die Mitternachtsfütterungen für Katies Pferd Vogue in den Sinn, wie wir danach bei Thrifties anhielten und Chocolate Almonds für uns und Teri besorgten, oder wie wir am Weihnachtsabend bis um 3 Uhr morgens wach blieben, nur um das Hockeyspiel der Junioren-WM Kanada gegen Deutschland nicht zu verpassen. Katie war über die letzten Monate meine große Schwester geworden, genauso wie Teri eine Mutterrolle für mich übernommen hatte. An meinem ersten Schultag nahm sie mich in den Arm, um mich zu beruhigen, sie kam zu meinen Regatten und feuerte mich an und sie fragte interessiert, wie mein Tag war, und bezeichnete mich als eines ihrer "Girls".
Sofort riss mich Charlotte aus meinen Gedanken. Sie versuchte mir noch eine Wasserflasche (zusätzlich zu den 3 in meiner Tasche, die ich sowieso nie leer kriegen würde) anzudrehen. Charlotte war Kenzies Mutter und machte sich immer um alle Sorgen. Sie brachte nach dem Training oft bis zu 10 Kinder in ihrem Minivan nach Hause. Bereits nach wenigen Wochen war sie zu einer Art Team-Mom für uns alle geworden, sogar für unsere Trainer Erika und Kevin. Charlotte nannte jeden (wirklich jeden) "honey" oder "baby" oder "fruitloop" (niemand weiß wie sie darauf kommt...).
Die anderen 3 Mütter waren nicht besser. Wenn wir im Hotel versuchten, unsere Freunde in ihren Zimmern zu besuchen, mussten wir damit rechnen, mindestens einer "Mom" zu begegnen (und genau aufsagen, wie viel wir heute schon getrunken und gegessen hatten). Sie kümmerten sich alle rührend um uns und hielten sogar unsere Eltern (egal ob in Victoria oder in Deutschland) mit regelmäßigen Berichten auf dem Laufenden.
Ich nahm mir also eine Flasche Gatorade, erklärte Charlotte, dass ich so kurz vor dem Rennen nichts essen könne, und setzte mich zu meiner Crew.
Sofia, Julia und Vivien saßen mit Erika im Kreis und versuchten, nicht allzu nervös auszusehen. Erika beruhigte uns und ging mit uns noch mal die Taktik durch. Ich saß im Bug des Bootes, das bedeutet, dass ich für den Kurs und für die Kommandos verantwortlich war. Sie sagte mir genau, was ich zu tun hatte und ich nickte nur, da ich es bereits seit einer Woche pausenlos im Kopf durchging.
13:24, noch 50 Minuten
Wir standen alle auf, um mit Erika zu unserem Boot zu gehen und uns bereit zu machen. Alle wünschten uns Glück, aber im Grunde kam nichts bei uns an. Wir waren in unserer eigenen Welt, nur wir Vier, in einem Boot, bis zur Ziellinie. Das war alles, was zählte. Was danach kam, war egal.
Wir kamen an unserem Boot an, wo Kevin schon auf uns wartete. Erika umarmte uns alle und wünschte uns Glück. Ich sah sie ein letztes Mal vor dem Rennen an und mir kamen all die 6:00 Uhr Morgentrainings mit ihr in den Sinn. Wie viel Spaß wir mit ihr im Training hatten, beim Laufen oder ganz besonders beim Krafttraining. All die Ergoeinheiten, in denen sie hinter mir gestanden und mich angefeuert hatte, wie sie uns Mädels immer Tipps gab, uns nach Hause oder in die Stadt fuhr und wie sie mich immer als ihr "little girl" bezeichnete. Sie war, wie wir alle, ein bisschen verrückt und passte so super zu uns. Sie war wahrscheinlich unser größtes Vorbild.
Kevin und Gord warteten schon auf uns. Wir kontrollierten alle Schrauben am Boot, hörten uns Kevins Motivationsrede an und machten uns dann auf den Weg zum Steg. Am Steg musste Kevin uns zuerst beim Schiedsrichter anmelden, der alle IDs kontrollierte und uns schließlich auf seiner Liste abhakte.
Bevor wir uns vom Steg abstießen, hielt Kevin noch eine kurze Rede, um unsere Nervosität zu senken. Ich sah ihn an und musste lächeln. Er war ein super Trainer, aber mit Worten eher ungeschickt. Er wusste nie so recht, was er sagen sollte und wenn wir nach einem gewonnenen Rennen alle auf ihn zurannten für unsere Victorygrouphugs, wusste er schon gar nicht, wie er damit umgehen sollte. "Awkward", das war der beste Weg ihn zu beschreiben. Ihm waren die meisten Dinge irgendwie peinlich, was ihn für uns nur umso sympathischer machte.
13:44, auf dem Weg zum Start
Endlich waren wir weg von dem ganzen Trubel der Regatta. Die Sonne brannte auf uns herab und das hellblaue Wasser glitzerte. Schnell und leicht glitt das Boot unter uns Vieren durch das Wasser und dem Start entgegen.
14:12, noch 2 Minuten
"2 minutes" tönte es aus den Lautsprechern des Schiedsrichters. Wir lagen mittlerweile am Start. Wir hatten Glück und waren auf einer der geschützten Mittelbahnen. Ich schaute mich ein letztes Mal um und versicherte mich, dass der Kurs stimmte. Dann gab ich (wie immer) ein Schulterklopfen durchs Boot. Wir waren bereit.
Die Ampel leuchtete rot auf. Ich zwang mich den Blick von den Gegnern loszureißen und nach vorne zu schauen. Konzentration. Höchste Anspannung. Dafür hatten wir ein Jahr gearbeitet. Heute musste alles stimmen.
Die Ampel sprang auf grün und wir waren sofort weg. Ein sauberer Start.
Wir gewannen die Meisterschaften mit unglaublichen 17 Sekunden Vorsprung vor den Zweiten. Aber selbst wenn es anders ausgegangen wäre, wenn wir nicht gewonnen hätten, ich war glücklich. Kanada war das beste Jahr meines Lebens. Ich habe viele neue Freunde gefunden und viel gelernt. Ich liebe Kanada, meine Freunde und meine Gastfamilie und kann jetzt schon sagen, dass mich nichts lange von all dem fernhalten wird.
Denn: "Once a Spartan, always a Spartan!"